Alle guten Dinge sind drei
Mitte Februar reisen wir erneut nach Indien ein. Es ist ein wenig wie nach Hause kommen, auch wenn es sich im emotionalen Sinne nicht so anfühlt.
Aber alles ist vertraut und Indien hat sich in den drei Wochen auch nicht wirklich verändert. Es ist noch so bunt und laut wie bei der ersten Einreise.
Wenn mir die Augen beim Essen tränen und die Nase läuft, obwohl ich bei der Bestellung des Essen gesagt habe, dass ich es wenig gewürzt haben möchte, wenn vor uns auf dem offenen Kleintransporter eine in bunten Tüchern verhüllte Leiche transportiert wird, wenn es auf der Straße für Tier, Mensch und Fahrzeuge keinerlei Regeln zu geben scheint, wenn ein kleines Geschäft am Straßenrand dem nächsten folgt, … dann kann ich mir sicher sein, dass ich in Indien bin.
Dem Kreislauf der Wiedergeburten entkommen
An Varanasi führt auf einer Indienreise kein Weg vorbei. Von daher hatte ich mich sehr dafür eingesetzt, das wir den Ort, der auch als Benares oder Kashi bekannt ist, trotz geänderter Route besuchen. Varanasi ist eine der ältesten Städte Indiens, eine Pilgerstadt, die heiligste Stadt der Hindus, kulturelles Zentrum und Universitätsstadt.
Varanasi ist laut, bunt, schrill, spirituell – ein Ort, an dem jeder Hindu sterben und verbrannt werden will. Denn jeder, der hier stirbt und verbrannt wird, kann so dem ewigen Kreislauf der Wiedergeburten entgehen.
Es ist schon ein besonderes Gefühl, bei Sonnenaufgang und Sonnenuntergang auf dem Ganges zu schippern und vom Boot aus den badenden Menschen an den Ghats zuzusehen, während direkt daneben Leichen verbrannt werden oder der abendlichen Huldigung des Flusses, der „ganga aarti“, einer hinduistischen Zeremonie, vom Boot aus beizuwohnen.
Varanasi ist eine Welt voller Widersprüchlichkeiten, von Faszination und Ekel, Freude und Trauer, Abfall und Tierexkrementen in den Gassen, neben Meditierenden und prunkvollen Tempeln. Unsere Fotos sprechen da sicher für sich.
Ich liebe es, in dieses pralle, volle Leben zwischen tausenden von Menschen einfach einzutauchen und empfinde inmitten all dieser Eindrücke und Geschäftigkeit oftmals eine tiefe Ruhe. Es ist dann so, als wenn die Zeit still steht und ich das Hier und Jetzt in vollen Zügen aufsauge. So ist es mir auch schon bei meinen Aufenthalten in Manhattan gegangen, auch wenn das bunte, laute und schrille hier sicher ganz anders ist.
Technische Stellplätze
Der Weg ist für eine Woche nicht mehr das Ziel. Von Varanasi aus bewegen wir uns so schnell es geht auf Mumbai zu. Alle sind damit beschäftigt, ihr Fahrzeug für die Verschiffung vorzubereiten, die letzten Lebensmittel zu verbrauchen, und die Zeit während der Verschiffung zu planen. Wir entscheiden uns dafür, die Zeit in Thailand zu verbringen und recherchieren verschiedene Optionen.
Im Land der Händler
Während unserer letzten Fahrten lasse ich wie immer meinem Blick schweifen. Überall die typischen Anblicke von Dörfer und Orten voller Händler, von munterem Treiben, das mir zwischenzeitlich so vertraut ist. Inder sind für mich das Volk der Händler. Oftmals sitzen sie vor ihren Häusern oder in kleinen Buden oder direkt auf dem Boden neben der Straße und bieten Obst oder Gemüse oder Wasser, Chips und Kekse in Tüten oder andere Dinge an – nicht viel und nicht selten genau die gleichen Produkte wie der Nachbar. Wir haben uns so oft gefragt, ob man davon leben kann. Überleben offensichtlich, leben in unserem Sinne sicher nicht.
Wir wären wahrscheinlich nicht zufrieden mit dem Auskommen, würden neue Geschäftsmodelle entwickeln, uns vom Angebot des Nachbarn abheben wollen… aber wir haben auch eine andere Mentalität, sind anders gebildet, haben andere Möglichkeiten und starten von einem anderen Lebensstandard aus. Und wir denken deutsch und nicht indisch.
Auf dem Highway to Mumbai
An einem Morgen fahren wir nicht die von unseren Guides vorgeschlagene Route, sondern folgen dem Vorschlag der Mitarbeiterin von Maps. Nach einer Viertelstunde finden wir uns auf einer sechsspurigen, leeren und gut ausgebauten Autobahn Richtung Mumbai wieder, lassen das Tagesziel aus und erreichen das Ziel für den darauffolgenden Tag bereits am frühen Nachmittag.
Die Autobahn, die sicher als schnelle Verbindungslinie quer durchs Land gebaut wurde, ist erst seit drei Monaten geöffnet.
Auf diesem Abschnitt erzielen wir mit 101 km/h unser höchstes Durchschnittstempo während der Reise überhaupt. Wer hätte gedacht, dass dies in Indien der Fall sein würde…
Eine Woche voller Abschiede
Nach fast vier Monaten gehören unsere indischen Guides Sumi und Suraj quasi zur Gruppe. Es fühlt sich irreal an, als sie eines Abends in Ellora zum Abschiedsessen laden. Auch unser deutscher Tourguide Tzyren verlässt uns ab Mumbai, um in Kürze eine Gruppe durch Afrika zu begleiten. Macht es gut, ihr Drei! Vielen Dank für eure Unterstützung auf unserem Weg nach Australien.
Und dann kommt der Abschied von unserem Amigo!
In Mumbai stellen wir unseren Amigo im Hafen ab, was allein einen ganzen Tag in Anspruch nimmt. So recht vermag niemand etwas mit den Fahrzeugen anzufangen, obwohl sie seit einem Monat angekündigt sind. So müssen wir unsere Wohnmobile während des Tages noch zweimal umstellen, bevor sie letztlich nach Sonnenuntergang einzeln an Hafenmitarbeiter übergeben werden.
Es ist ein sehr komisches Gefühl, das eigene Zuhause nach fast acht Monaten in andere Hände zu geben und in ein Hotel zu ziehen.
Wir haben zwei weitere Übernachtungen in Mumbai im Hotel gebucht, um bei der Zollabnahme dabei zu sein. Das wurde so vorgeschlagen und zugesagt. Letztlich stellt sich heraus, dass dies gar nicht möglich ist. Von daher bleibt nun nur zu hoffen, dass wir unseren Amigo in der zweiten Märzhälfte unversehrt wieder in Thailand in Empfang nehmen können. Planung auf dem Subkontinent läuft eben nach ganz eigenen Spielregeln.
Wieder Urlauberin?
Ohne Amigo fühle ich mich auf einmal nicht mehr wie eine Reisende, sondern eher wie eine Touristin, eine Urlauberin. Wir sind ab nun für mehr als drei Wochen auf uns gestellt, selbst für unsere Programm verantwortlich, frei vom Gruppenkontext, von Zeiten, Meetings, Mehrheitsentscheiden… frei.
Dharavi, die Zweite
Für den ersten freien Tag buchen wir dann auch gleich zu sechst unsere zweite Slumtour in Mumbai, diesmal mit Mittagessen im Haushalt einer Familie.
Wie schon zuvor werden wir von einem gut ausgebildeten, ambitionierten und einfühlsamen Guide durch Dharavi geführt. Auch beim zweiten Mal hat die Tour nichts von ihrer Faszination verloren. Wir tauchen ab in eine ganz eigene Welt, die mich erstaunen, aber mir auch die Tränen in die Augen steigen lässt. Diesmal kann ich tiefer eintauchen und mir die Welt im Slum genauer ansehen. Es ist fast unerträglich zu sehen, dass einige Menschen fast ohne Sonnenlicht in einem kleinen, ärmlich eingerichteten Raum mit ihrer Familie leben. Und doch sind es nicht die ärmsten Menschen, denn sie leben in einer Gemeinschaft, für ihre Grundbedürfnisse ist gesorgt. Die Ärmsten leben auf der Straße und nicht im Slum.
Es wir mir erneut deutlich, dass es auch hier glückliche und zufriedene Menschen gibt. Geld und Wohlstand sind nicht die wesentlichsten Dinge im Leben. Und doch wünsche ich den Menschen von Herzen mehr davon.
Einige sehr reiche Menschen planen, den Slum aufzulösen und die Bewohner in Appartementhäuser umzusiedeln. Unter den Bewohnern gibt es Befürworter, weil der Lebensstandard dadurch wächst, aber auch viele Gegner, die befürchten, dass sich das Leben dann radikal ändert. Zusammenhalt und Gemeinschaft, die das Leben hier ausmachen, würden dann nicht mehr existieren, so die Gegner. Ich werde aus der Ferne verfolgen, wo die Reise hingeht, denn letztlich bleibt nichts wie es ist.
Noch einmal bunt und Laut
An unserem letzten Tag in Indien schlafen wir aus und fahren mit dem Taxi zur Südspitze Mumbais. Während wir zurück bummeln, sauge ich ein letztes Mal all die Farben, Gerüche und Laute in mich auf. Im Fischereihafen erfreue ich mich am geschäftigen Treiben und in den einzelnen Stadtteilen an all den Menschen in ihren kleinen Geschäften auf der Straße, an den Schulkindern, dich mich ansprechen, den Menschen, die mir signalisieren, dass ich ruhig ein Foto von ihnen machen darf.
Abschiedsschmerz
Und auf einmal, ganz leise, schleicht sich ein Gefühl ein, dass ich nicht erwartet hätte. Abschiedsschmerz macht sich breit. Auf eine ganz besondre Art habe ich Indien und die doch so andere Lebensweise der Menschen hier lieb gewonnen, kenne mich ein wenig aus im Land, bin mit vielen Dingen vertraut, weis mit Situationen umzugehen.
Auch wenn Indien sicher nicht ganz oben auf meiner Reiseliste steht, halte ich es doch lieber mit James Bond und verabschiede mich nach über drei Monaten im Land mit einem: „Never say never again.“
Eure Saradevi
Mumbai, 02.03.2023