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Indien Mittelstufe

Bildung statt betteln

Vielleicht erinnert ihr euch daran, dass ich mich in Pakistan gesorgt habe, ob ich mit all den bettelnden Menschen in Indien klar kommen werde. Nach rund elf Wochen im Land muss ich sagen, dass nur wenige Menschen betteln. Eigentlich fast ausschließlich an den touristischen Zielen. Hier werden dann immer wieder auch Kinder vorgeschickt, denen man quasi keinen Wunsch abschlagen kann.
Eltern fühlen sich bestätigt, wenn ihre Kinder Geld bekommen und schicken sie dann nicht zur Schule. Das wollen wir keinesfalls unterstützen, auch wenn die Kinder mir sehr leid tun. Von daher sage ich den Eltern, wenn sie in der Nähe sind, dass ich es für keine gute Idee halte, ihre Kinder vorzuschicken.
Unser Reiseleiter ist der Ansicht, dass jeder, der zwei gesunde Hände zum Arbeiten hat, auch welche findet. Von daher sei betteln nicht notwendig. Wenn Menschen mehr Geld mit Betteln verdienen, als mit Arbeit, würde es unattraktiv, etwas Anständiges zu lernen bzw. sich zu bilden.

So haben Manfred und ich uns nach einigen Diskussionen entschieden, bettelnden Menschen – abgesehen von einigen Ausnahmen – kein Geld zu geben. Das ist nicht immer leicht und es zerreißt mir manchmal das Herz. Eine Ausnahme machen wir hier und da bei bettelnden älteren Frauen. Witwen haben es in diesem Land nicht leicht und erfahren nur wenig Unterstützung. Das ist eine andere Situation. Es ist ja auch möglich, Menschen, die wenig haben und um unser Wohlergehen bemüht sind, mehr Trinkgeld zu geben oder etwas zuzustecken, da diese in der Regel zum Lebensunterhalt einer großen Familie beitragen.

Wissen ist Macht

Noch nie in meinem Leben ist mir so deutlich geworden, welchen Stellenwert Bildung und Wissen im Leben von Menschen haben. In Deutschland hat zumindest jeder Mensch Zugang zu Bildung und Wissen. Auch wenn es große Unterschiede im Bildungsniveau gibt, so sind sie sicher nicht so eklatant wie ich es in Indien im Hinblick auf ganze Regionen erlebe.
Im Norden Indiens habe ich viele Kinder tagsüber in den Dörfern gesehen, spielend oder den Eltern helfend. Es war keine klassische Ferienzeit. Auch Schulkinder gab es nur selten auf der Straße.
Im Süden Indiens hingegen bevölkern die Schulkinder in ihren Uniformen zu bestimmten Zeiten regelrecht die Straßen. An einer Warteschlange habe ich mich mit gut ausgebildeten Mädchen unterhalten, die mit der Klasse mehrere hundert Kilometer gereist sind, um sich den Palast von Mysuru anzusehen.
Wir haben uns gefragt, welches Leben die Teenagerinnen wohl in zehn bis fünfzehn Jahren führen, wenn sie verheiratet sind/wurden und im Haushalt der Ehemänner und dessen Familie leben. Frauen gehen hier nur zu einem geringen Anteil einer Erwerbstätigkeit nach. Sie sind für Haushalt und Kindererziehung zuständig.

Bildung ist der Schlüssel für Entwicklung, Fortschritt, Macht und auch Eigenständigkeit. Unterbindet eine Regierung den Zugang, zementiert sie Machtverhältnisse, zahlt aber auch den hohen Preis der Stagnation, Unterentwicklung sowie Unmut und Wiederstände. 

Weiterhin haben wir – soweit möglich – die Situation im Iran im Blick. Dort haben wir viele gut (aus-)gebildete Menschen getroffen; einige von ihnen setzen gerade ihr Leben für eine bessere Zukunft aufs Spiel.

Indien steht Kopf 

Auf unserer Reise habe ich immer wieder vom Nord-Süd-Gefälle berichtet, was Wohlstand, Rechte der Frauen, Entwicklung etc. anbelangt. Hier in Indien erlebe ich es anders herum. Je weiter wir Richtung Süden gekommen sind, desto entwickelter erscheinen die Dörfer und Städte. Die Häuser sind massiver gebaut. Infrastruktur und Straßen sind in einem sehr guten Zustand und es gibt hier und da sogar befestigte Gehwege. In Goa und Kerala sind wir durch große Städte gefahren, die eher westlich wirken. Auch das Angebot an Waren und Lebensmitteln ist viel umfangreicher.
Zudem lässt die Natur mehr Landwirtschaft zu, alles ist viel grüner und es gibt viel mehr Zugang zu Wasserquellen. Auch gibt es viele saubere Dörfer und Städte und sogar hier und da Abfalleimer und Mülltonnen. Offensichtlich können einzelne Bundesstaaten doch großen Einfluss nehmen.

Von den vielen Schulkindern auf den Straßen habe ich bereits berichtet. Dass Bildung Fortschritt bedeuten kann, ist dort offensichtlich.

Samsara – vom ewigen Zyklus des Seins

Indien ist ein sehr junges Land. Ein Viertel der Bevölkerung ist unter 14 Jahre alt, weniger als zehn Prozent über 65. Von daher müsste bei einer solchen Masse an Menschen (geschätzte 1,4 Milliarden) ein enormes Entwicklungspotential vorhanden sein. Für Entwicklung bedarf es jedoch eines Motors. Nur wer etwas verändern oder entdecken möchte, neugierig und von der eigenen Selbstwirksamkeit überzeugt ist, wird den Motor anschmeißen. Nach fast drei Monaten im Land empfinde ich Indien eher nicht als schlafenden, sondern als trägen Riesen.
In Indien ist ein Großteil der Menschen überzeugt, dass es einen ewigen Zyklus des Seins in Form von Wiedergeburten gibt. Maßgeblich für das kommende Leben sind die Handlungen, ist das eigene Verhalten im Hier und Jetzt. Meine Gedanken, Worte und Taten bestimmen in Form von Karma über mein nächstes Leben. Der Einfluss, den ich auf mein aktuelles Leben nehmen kann, ist also gering.
Das hemmt einerseits die Leistungsfähigkeit und die Entwicklung, trägt aber auch dazu bei, dass Menschen sich fügen und die Dinge so annehmen wie sie eben sind. 

Alles hat bekannter Maßen zwei Seiten. Das erklärt vielleicht auch, warum die sehr großen sozialen und wirtschaftlichen Unterschiede in diesem Land nicht zu größeren Verwerfungen und Widerständen führen.

Indien genießen

Immer wieder wünschen uns Follower, Freunde und Familie, wir mögen die Zeit in Indien in vollen Zügen genießen. Vielleicht fahren wir zu wenig Zug… jedenfalls fühlt es sich nicht immer wie Genuss an, was wir so erleben. 

Meine Gefühlslagen sind hier in Indien sehr wechselhaft. Das Land fordert mich nach wie vor sehr heraus. Desto länger ich hier bin, desto intensiver ist die Auseinandersetzung.

Manchmal wünsche ich mir eine kurze Auszeit zuhause, bei Familie und Freunden, in einer Umgebung, die mir gut tut und wo ich im Großen und Ganzen weiß, was mich erwartet.
Oder ich sehe mich bei einem Kaffee und guter Lektüre/ Musik auf meiner Couch auf Texel sitzend oder am sauberen Strand  und in den Dünen von Den Hoorn herumspazieren.

Es ist anstrengend und heilsam zugleich, sich dem so anderen Leben hier nicht entziehen zu können, sich einfach dem stellen zu müssen. 

Zwischenzeitlich habe ich mich an so viel Anblicke und Lebensweisen regelrecht gewöhnt: Die typisch indischen Straßenbilder und -szenen (mit Tieren), die Art der Bebauung, wenig befestigte Gehwege, kleinen Läden, Fahrzeugen aller Art, dem völlig irren Verkehr, den Müll, der Lautstärke, den vielen fast schon skurielen Szenen, anders gekleideten Menschen, Gerüchen, den ärmlichen Verhältnissen, den wenigen Frauen im Straßenbild …

An manchen Tagen macht es mir Freude durch diese Land zu fahren und all das einfach aufzusaugen in meinen ewigen Erinnerungsschatz. An anderen Tagen hab ich schwer mit Widerständen gegen all dieses andere, mir Fremde zu kämpfen. 

Insbesondere, wenn mal wieder die halbe Nacht auf einem Stellplatz unweit unseres Amigos eine Hochzeitsinstallation auf oder abgebaut wird oder wir mit Musik beschallt werden. Im Herbst ist die Zeit der Hochzeiten. Es herrscht dann eine nicht enden wollende Geschäftigkeit. Wenn ich nachts die Augen öffne, sitzen auch schon mal junge Inder, die zu den Arbeitern gehören, unweit unseres Womos und quasseln. Morgens liegen einige von ihnen dann in Decken oder Planen eingewickelt einfach irgendwo unweit unserer Wohmobile, andere grüßen mit Zahnbürste im Mund, ohne Wasser in der Nähe. Wenn ich meinen Unmut über die unruhige Nacht überwunden habe und über die Arbeitsbedingungen dieser Männer nachdenke, frage ich mich, wie lange man einen solchen Job überhaupt machen kann und ob sie alle eine Familie haben, Frau und Kind?

Manchmal wird auch einfach nur Abfall unweit unserer Wohnmobile verbrannt oder das Abwasser abgelassen, so das nachts ein irrer Gestank durch den Amigo zieht. Wir schlafen aufgrund der Wärme weiterhin bei offenen Fenstern.

Werde ich dann nach einer solchen Nacht gefragt, wie ich Indien finde, entlockt mein Gegenüber mir nur ein diplomatisches „Sehr, sehr anders!“. 

Mit Genuss hat das also nicht wirklich viel zu tun. Ich würde eher sagen, eine Erfahrung, die ich nicht missen möchte. Es lässt mich viel darüber nachdenken, was eigentlich normal ist und wer die Maßstäbe setzt.

Eines ist jedoch klar: Hier bin ich die Unnormale, die aus der Rolle fällt, anders ist.

Sinnbild Indiens

Als wir vor ein paar Tagen am Golf von Bengalen für zwei Nächte auf dem Parkplatz eines Hotels standen, kam uns nachmittags ein Truthahn besuchen. Er bliebt bestimmt eine Viertelstunde bei uns am Amigo und drehte seine Runden um unseren Tisch. Ich war ganz fasziniert von ihm, fand ihn schön und hässlich zugleich. Wie ich ihm hinterherschaute, kam es mir in den Sinn, dass es mir genauso mit Indien geht. 

Ich bin nach wie vor fasziniert von diesem Land, seiner Vielfalt und Unterschiedlichkeit. Ich liebe Indiens Farben, die Lebendigkeit, die Vegetation im Süden, den Umgang mit den Tieren in den Dörfern, die Neugierde und das Interesse der Menschen an uns. 

Und doch verabscheue ich den Müll, die Lautstärke, den Egoismus (auf den Straßen), die Stellung der Frau in der Gesellschaft, das Nebeneinander von extremer Armut und Reichtum…

Natürlich nehme ich nur einen ganz kleinen Teil wahr. Aufgrund der Sprachbarrieren können wir in Gesprächen selten in die Tiefe gehen und Vieles nur durch das Anschauen und Hinschauen wahrnehmen und erleben. Und doch sind wir hautnah dabei, leben unseren Alltag hier und haben am Ende unserer Indientour wahrscheinlich mehr vom Land gesehen, als die meisten Inder selbst.

Indische Badekultur

Meine Vorstellungskraft ist gut ausgebildet. So freue ich mich schon Tage vor Ankunft am Golf von Bengalen auf ein Bad im Meer. Im Pilgerort an der Südspitze ist natürlich nicht der passend Ort, neben all den Pilgern in voller Montur, die das Bad im Meer als rituelle Waschung vornehmen.

Auf unserem Weg gen Norden, parallel zum Meer, fahren wir deshalb tags darauf einen auf der Karte gekennzeichneten Beach an und noch einen und noch einen. Was wir vorfinden, ist immer das selbe: Verwaiste, weniger gut gepflegte Strände, hier und da Fischerboote. Jenseits der Touristenströme werden wir stets neugierig und zunächst kritisch beäugt. Es ist schwer ins Gespräch zu kommen, da so gut wie keiner Englisch spricht.
An einem Beach gibt es schließlich auch ein Café sowie die Möglichkeit, einen Bootsausflug zu machen. Das Café wird von etlichen Frauen des Ortes betrieben. Die Einnahmen kommen dem Dorf zugute. So das Konzept des Besitzers. Hier frage ich die Frauen, warum niemand schwimmen geht und ob das in Indien nicht üblich ist. Sie finden meine Vorstellung wahrscheinlich eher komisch und antworten, dass nur Männer schwimmen gehen und das meist in Verbindung mit dem Fischen. Frauen gingen nicht schwimmen. Sie selbst könnten es auch nicht.
Soviel zu meiner Idee von idyllischen Stränden und einem Bad im Meer.

Einige Etappen später ergibt sich an einem Hotelstrand dann doch noch mal die Bademöglichkeit. Allerdings nehme ich diesmal Abstand, weil – wenn auch nicht viel – Müll im Meer schwimmt und das meiner Vorstellung von einem Bad im Meer widerspricht. 

Eine Träne, die mich sehr anrührt

Als wir an einem Tag nach der Mittagspause auf den Startschuss zur Weiterfahrt mit den Tuktuks warten, will mich eine Verkäuferin in ihren Laden locken. Wie meist, sage ich, dass ich nichts benötige und auch nicht mitnehmen kann, da wir in einem kleinen Auto reisen. Das hat sie schon von anderen gehört, versucht es aber trotzdem. Wir kommen ins Gespräch. Sie ist ganz interessiert an unserer Reise. Als ich sie frage, ob sie schon mal durch Indien gereist ist, wird sie ganz traurig, ihre Augen füllen sich mit Tränen. Das ist ihr sehr peinlich und sie schaut einen Moment verlegen weg. Nein, lautet die Antwort. Um Reisen zu können, müsse sie wohl noch sehr, sehr viele Dinge verkaufen. Es ist spürbar, dass es dafür wohl nie reichen wird. Mich beschämen solche Momente. Wie privilegiert wir doch sind, überhaupt reisen zu können! 

Reisen bildet, Schlager nicht

Endlich sollte es soweit sein, wir würden Kolkata und somit auch den Ganges erreichen. Leider hatten wir verpasst, im Nordwesten Indiens einen Abstecher nach Rishikesh zu machen, wo der Ganges noch glasklar und jungfräulich sein soll.

In Vorbereitung auf unseren Aufenthalt in Kolkata, habe ich jedoch mit Entsetzen festgestellt, dass ich mit einer Lebenslüge aufgewachsen bin. Noch jetzt sehe ich meine Oma Beckmann vor meinem geistigen Auge, wie sie die Schallplatte auflegt und während der Küchenarbeit gemeinsam mit Vico Toriani schmettert: Kalkutta liegt am Ganges, Paris liegt an der Seine. Doch das ich so verliebt bin. Das liegt an Madeleine…
Doch der gute Vico hatte sich wohl geirrt. Es ist gar nicht der Ganges, der durch Kolkata fließt, sondern der Hugli.
Ab jetzt bin ich also auf der Hut, wenn mein Wissen aus Schlagern genährt wurde.

Kolkata, du hast uns begeistert

Meine ersten Berührungen mit Kolkata, dem einstigen Kalkutta, hatte ich als kleines Mädchen, als ich meine Groschen in die Pappspardose der Sparkasse steckte und für die Kinder in Kalkutta sparte. Eine Aktion von Misereor. In diesem Zusammenhang habe ich auch von Mutter Theresa und ihrem Wirken gegen die Armut gehört.
Mit diesen inneren Bildern von Armut und hungernden Kindern ausgestattet, war ich sehr neugierig auf diese ehemalige Hauptstadt Indiens.

Unser Stellplatz, zwanzig Kilometer vom eigentlichen Zentrum entfernt, befindet sich im neuen Teil Kolkatas, in New Town. Hier wachsen gigantische Wohnanlagen und Firmensitze sämtlicher weltweit agierender Firmen wie Pilze aus dem Boden. Vieles ist noch im Bau. Alles wirkt westlich. Es ist, als entstünde eine Parallelwelt vor den Toren der Stadt.

Von dort erobern wir uns das Herz Kolkatas, auch auf eigene Faust. Wir erleben ein quirliges, buntes und geschäftiges Kolkata, ob am Blumenmarkt und in den Einkaufsstraßen. In den kleinen Gassen werden wir Zeuge, wie Gottheiten aus Stroh und Lehm zum Leben erweckt werden. Hier leben und arbeiten die Menschen in ihren Werkstätten. 

Hungernde Menschen haben wir nicht gesehen. Wohl aber viel Armut und sehr, sehr ärmliche Behausungen, teils an Hauswänden und auch entlang der Bahnstrecke errichtet.

Unsere Neugierde hat uns in Gassen gezogen, in denen es sich verbat, Fotos zu machen. Aber auch hier haben die Menschen uns freundlich gegrüßt und uns mit Rat und Tat zur Seite gestanden.
Ansonsten haben wir die Tage in Kalkotas lebendigen Vierteln sowie auf dem Geländer der Universität, dem Mutter Theresa Haus und rund um den Book Market sehr genossen. Einer der Höhepunkte war der Besuch im Indian Coffee House, in dem schon Günter Grass einkehrte. Hier machten wir nette Bekanntschaften mit den Menschen an unseren Nachbartischen und genossen den „Coffee Spezial“. 

Mit primitiven Mitteln

Nach wie vor sauge ich Tag für Tag all die Eindrücke, auch während der Autofahrten, in mich auf. Es beschämt mich, mit welch primitiven Mitteln Menschen im Haus- und Straßenbau, in der Landwirtschaft und auch in ihren Werkstätten tätig sind. Frauen balancieren Schalen und Körbe mit Beton und Steinen auf den Köpfen. Gesäubert wird im Straßenbau auch gern schon mal mit einem Handfeger und auf den Feldern sieht man selten Maschinen. Meist sind Ochsen im Einsatz oder es wird von Hand mit einem Rechen geerntet.
Je weiter wir wieder Richtung Norden reisen, werden Reisanbau,  Kokos- und Bananenplantagen vom Getreide- und Senfanbau abgelöst.

Es werden viele Dinge in kleinen Garagen und Hütten produziert. Ersatzteile finden sich auch gerne mal auf den Dächern wieder.

Eines muss man den Menschen hier lassen: Sie wissen sich zu helfen, nutzen viele Dinge, die wir wegschmeißen würden und sind erfinderisch und handwerklich sicherlich um einiges begabter als wir.

Ein Herz für (K)Inder

Wer kennt nicht den Aufkleber mit dem roten Herzen und dem Schriftzug „Ein Herz für Kinder“ darunter. Eines unserer Teamfahrzeuge, hat diesen Aufkleber auf dem Heck, wobei das „K“ übermalt ist. Seit Beginn der Reise habe ich mich gefragt, ob ich wohl ein Herz für Inder habe.

Was das Verhalten im Verkehr und den Egoismus im Alltag (Vordrängeln beim Eikauf…) und die ignorante Haltung / mangende Wertschätzung der Männer den Frauen gegenüber anbelangt, definitiv nicht. 

Im Einzelkontakt habe ich die Inderinnen und Inder bislang jedoch als sehr freundlich, interessiert, hilfsbereit und herzlich empfunden. Und das unabhängig von Bildung und Lebensverhältnissen. 

Auch in Indien wurden wir spontan eingeladen, bekamen Unterstützung und Hilfe angeboten. Erst in Kolkata haben uns mehrere, zum Teil kein Englisch sprechende, Passanten beim Weg in den richtigen Bus geholfen.

Von daher würde ich durchaus sagen, dass ich auch ein Herz für Inder habe. 

Von kleineren und größeren Katastrophen

Ganz allmählich zeigen sich immer mehr Ausfälle und Verschleißerscheinungen an unseren Womo’s. Zudem passieren viel mehr kleine, kaum wahrnehmbare Unfälle, aber auch größere. Hier ein kleiner Kratzer nach einem Kontakt mit einem Bus oder Moped, dort ein Zusammenstoß mit einem Wasserbüffel. Hier ein brennender Ladebooster, da ein abgefahrenes Fenster oder eine kaputte Kupplung.

Die Straßenverhältnisse, gepaart mit diesem chaotischen, unbeschreiblichen Verkehr, sind derart fordernd für Womo und Fahrer, dass es fast unmöglich scheint, die Tour ungeschoren zu bestehen. Es bedarf einer totalen Konzentration auf Indiens Straßen und das nun schon im dritten Monat. Wir freuen uns über jeden Tag, an dem wir ohne Blessuren aus diesem Chaos gesund und munter am Stellplatz ankommen.
Nach gut 25.000 Kilometern auf teils sehr maroden Straßen und sehr, sehr, sehr, sehr vielen Bumpern, benötigen wir in absehbarer Zeit neue Stoßdämpfer. Zudem mussten wir vor ein paar Tagen ein Rücklicht sowie das Kennzeichenlicht auswechseln.

Ich bin fasziniert, wie die Gruppe zusammenhält und sich alle nach Kräften einbringen, wenn etwas passiert oder nicht mehr funktioniert.
Es grenzt schon an ein Wunder, dass der frontale Zusammenstoß mit einem Wasserbüffel (kaputter Kühler, viele kaputte Einzelteile, zerbeulte Motorhaube…) mit Ersatzteilbeschaffung in Deutschland, Botenflüge, Reparatur und Montage vor Ort nur so wenige Zeit in Anspruch genommen hat, dass die Geschädigten die Gruppe, die natürlich weitergereist ist, schon nach einer Woche wieder eingeholt haben. Bilder von dem Unfallfahrzeug findet ihr im Ordner Hyderabad.

Frau wird genügsam

Wenn wir weder Milch noch Brot in einem großen Supermarkt finden, dann nehmen wir das einfach hin und improvisieren mit dem, was wir haben, ohne noch einmal quer durch die Stadt zu fahren, um die Einkaufsliste abzuharken.

Nachdem ein Zyklon Anfang Dezember auf die Ostküste getroffen war, verbunden mit zwei Tagen Dauerregen (später Monsun), hat das Frischwasser auf unserem Stellplatz eine bräunliche Farbe angenommen. Das wollte ich lieber nicht in den Frischwassertank füllen und fragte andere Teilnehmer mit großem Tank, ob sie uns mit 12 Litern aushelfen könnten, damit unsere Pumpe nicht leer läuft. Ihre eigene Wasserknappheit überbrückten sie gerade mit dem Regenwasser, dass sie über die Markise in einen Eimer laufen ließen und gaben uns von ihrem so gewonnenen Frischwasser ab. „Not“ macht erfinderisch und manchmal reichen ganz einfache Mittel, um zum Ziel zu kommen. Lieben Dank noch mal für die Idee und fürs Teilen.

Mittlerweile praktizieren wir die Körperwäsche mit dem Waschlappen in Perfektion. Winfried Kretschmann hätte seine wahre Freude an uns. Unsere Freude über eine, selbst kalte, Dusche – wo auch immer – außerhalb vom Amigo ist ungebrochen.

Mit unserem Amigo verbindet uns zwischenzeitlich im wahrsten Sinne eine tiefe Freundschaft. Wir verstehen ihn immer mehr, wissen mit seinen Ressourcen umzugehen und sie zu erhalten. 

Wir haushalten mit Wasser und Strom und haben erst kürzlich noch einen Stromfresser entlarvt. Es gibt nicht mehr, als unser Amigo an Strom produziert bzw. noch als Wasserreserve anbietet. Hiermit haben wir zu leben gelernt und erfreuen uns daran.

Es ist immerhin für indische Verhältnisse noch ein sehr großer Luxus, in dem wir hier leben. Interessierte Inder hatten uns immer mal wieder erstaunt angeschaut, dass wir NUR zu zweit in diesem großen Fahrzeug unterwegs sind.
Typisch indisch haben wir dann auch schon mit bis zu drei weiteren Gästen einen Abend im Amigo verbracht. Geht nicht, gibts nicht.

In der Geschwindigkeit, in der die letzten Vorräte an Lebensmitteln von Zuhause verschwinden, wächst die Sehnsucht, einfach mal wieder dies oder das zu essen oder einzukaufen. 

Natürlich bemerke ich dieses Phänomen insbesondere an Tagen, an denen ich ohnehin durch die nächtliche Mückenjagd unausgeschlafen bin oder müde und geschafft von der Hitze und den anstrengenden Fahrten. Denn: Eigentlich mangelt es uns an nichts und doch gelüstet es mich manchmal nach dem, was ich eben gerade nicht haben kann.

Mal was ander(e)s machen

An manchen Tagen überfällt mich die Lust, die Reiseleitung an mich zu ziehen und mit Manfred und Amigo unser Ding zu machen. Einfach fahren bzw. bleiben, so wie es uns gerade gefällt. Die Informationen einholen, die wir benötigen oder auch kundige Guides hinzuziehen.

Es ist während der Gruppenreise natürlich jederzeit möglich, sich für ein paar Tage von der Gruppe zu entfernen. Das haben wir im Süden von Indien auch für drei Tage mit einigen Womos gemacht, weil wir gerne auf die Landzunge Richtung Sri Lanka reisen und den Pilgerort nebst Tempel besichtigen wollten. Alles in allem hat das gut funktioniert, auch wenn es ein komisches Gefühl war. Vor Weihnachten waren bis zu sechs Fahrzeuge nicht bei der Gruppe. Seit Kolkata sind erstmals wieder alle versammelt.

Über ein Jahr Tag für Tag in der Gruppe zu reisen, das ist einerseits sehr komfortabel, weil frau sich nur an den „gedeckten Tisch setzen muss“, andererseits aber auch sehr fordernd. 

Ich habe in meinem Leben schon viele Gruppen – auch auf Reisen – begleitet, und habe eine ganz andere Idee davon, als unser Reiseleiter. Er gehört im Gegensatz zu mir eher zu der wortkargen, weniger kommunikativen Fraktion. Das fordert mich sehr und führt immer wieder zu Enttäuschungen. Offensichtlich habe ich mich, was diesen Part der Reise anbelangt, getäuscht und bin damit in guter Gesellschaft.

Hinzu kommt, dass ich es mag, in meinen Rhythmus zu leben und die Reise nach unseren Interessen auszurichten. Das ist natürlich auf einer Gruppenreise immer ein Kompromiss. Das wussten wir schon vorher. Aber das zu wissen und es im sechsten Monat zu erleben, das ist zweierlei.
Von daher habe ich in den letzten Wochen immer mal wieder eine Gruppenmüdigkeit verspürt. Wahrscheinlich ein typisches Phänomen bei Langzeitgruppenreisen.

Andererseits ist mir die Gruppe an sich sehr ans Herz gewachsen. Unser indischer Reiseleiter spricht uns häufiger mit „Liebe Familie“ an. Und in der Tat hat es was von einer Familie. Die Präsenz, das Füreinander und Miteinander, die Dynamik, der Zusammenhalt und vieles mehr erinnern schon ein wenig an das, was ich unter Familie verstehe. Und mit einer „Familie“ zu reisen, gibt einfach ein gutes Gefühl.

Vom Glück

Ich freue mich jetzt sehr auf Bhutan. Am 2. Januar 2023 werden wir über Jaigaon einreisen. Mit etwas Sorge blicke ich auf die Temperaturen, die uns in Bhutan und später auch in Nepal erwarten. Für nachts sind Temperaturen bis in den zweistelligen Minusbereich vorhergesagt. Da bekomme ich Frostbeule schon bei der Vorstellung eine Gänsehaut.
Bhutan war immer ein Reiseziel, das so unerreichbar schien. Um so schöner, das Land des Bruttonationalglücks bald für zehn Tage erkunden und dort sogar meinen Geburtstag feiern zu dürfen! Davon zu gegebener Zeit mehr.

Gute Wünsche von sama

Bis dahin wünschen wir euch, die ihr uns so treu folgt, einen guten Rutsch und ein gesundes und friedvolleres neues Jahr.

Eure Saradevi
Siliguri 31.12.2022

Unserer Reise durch Indien Dezember 2022 bis März 2023 (Indien Teil 2)

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