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Zwei an einem Ort!

Am letzten Wochenende war ich für 24 Stunden im Ruhrgebiet. Nach staugeplagter Anreise haben mich die Oldies mal wieder mit einem meiner Lieblingsessen verwöhnt. Es ist immer schön, Zeit mit ihnen zu verbringen. Hierfür nutzen wir eigentlich jede sich bietende Möglichkeit.

Begrüßung und Abschied

Im Anschluss habe ich den neuen Erdenbürger Lius im Kreise seiner Familie begrüßt. Ganz friedlich und zufrieden verweilte er mal in der Hängewiege, mal auf Mutters Arm ganz ruhig mitten unter uns.

Der Samstag stand dann ganz im Zeichen der Beerdigung des Vaters einer Freundin. Schon seit Tagen waren viele Erinnerungen in mir wieder lebendig. Als Kind und Jugendliche habe ich viel Zeit im Haushalt jener Familie verbracht. Mehrfach in der Woche bin ich nach Schmachtendorf geradelt, um meine Freundin zu besuchen oder abzuholen. Damals habe ich es als normal empfunden, bei FreundInnen ein- und auszugehen. So war das eben, wir verabredeten uns bei einem aus der Clique zuhause, wurden reingelassen und bewegten uns dann irgendwie über Stunden frei im Haus oder zogen weiter. Ein Privileg von Kindern und Jugendlichen.
Über die Jahre habe ich auf diese Weise auch viel Zeit in der Familie des Verstorbenen verbracht, durfte viel von ihnen erfahren und ganz unmerklich auch mitnehmen auf meinen Weg – andere Lebensweisen haben mich schon immer sehr fasziniert. Heute bin ich sehr dankbar für diese Erfahrung, die Offenheit und Warmherzigkeit mir gegenüber und die Selbstverständlichkeit, mit der ich dort sein durfte.

Noch ganz eingenommen von diesen Erinnerungen stehe ich nun mit vielen anderen am Grab und nehme Abschied. Einige der Anwesenden habe ich seit Jahrzehnten nicht gesehen und doch erkenne ich die meisten wieder, irgendwie sieht man sich ja doch noch ähnlich…

Der Lauf des Lebens

Auf der Rückfahrt nach Texel lasse ich meinen kurzen Aufenthalt noch einmal Revue passieren: In den letzten Stunden durfte ich einen neuen Erdenbürger kennenlernen und habe von einem Abschied genommen. Der eine ist am 13. Oktober gestorben, der andere am 14. Oktober geboren. Beide leb(t)en an einem Ort. Das ist wohl das einzig verbindende, neben der Tatsache, dass ich beide kennenlernen durfte. Fast 100 gelebte Jahre liegen hinter dem einen, das Leben des anderen beginnt gerade erst. „Eine Art von Schichtwechsel“, verselbstständigen sich meine Gedanken, oder weniger ruhrpöttisch und angemessener gesagt: „Das ist wohl der Lauf des Lebens!“.

Während meiner Stunden auf der Autobahn sinne ich der Ansprache in der Kapelle nach. Der Redner hat den Lebensweg des Vaters meiner Freundin noch einmal nachgezeichnet und endet mit den Worten, dass dieses Leben wohl filmreif gewesen sei. Der Verstorbene ist 97 Jahr alt geworden. Er wird nach dem ersten Weltkrieg in ärmlichen Verhältnissen in einem anderen Land geboren. Sei Leben ist geprägt von Krieg, Zwangsarbeit, Auswanderung nach Südamerika, Wechsel, Wandel, Aufgabe, Neubeginn und schließlich der Integration in die deutsche Gesellschaft als Gastarbeiter der ersten Stunde… kein einfaches Leben.

Themen im Wandel der Zeit

Während ich mir das Leben des Verstorbenen vergegenwärtige und auf die Themen und Lebensbedingung der letzten 100 Jahre zurückschaue, überlege ich, was Lius wohl in den nächsten 100 Jahren erwartet. Zwei Leben, vielleicht zwei Jahrhunderte?

Wir hier im globalen Norden haben aktuell wohl noch die besten Lebensbedingungen weltweit. Viele Menschen auf der südlichen Halbkugel bekommen die Auswirkungen der Klimakrise sowie der Globalisierung bereits jetzt existenziell und hautnah zu spüren. In ihren Ländern gibt es vielfach keine langfristige Perspektive mehr – es mangelt an Wasser und Nahrung. Auch Kriege und kriegsähnliche Zustände gibt es aktuell in etlichen Ländern. Heute wie damals machen sich viele Menschen auf den Weg, brechen ihre Zelte in der Heimat ab, geben alles auf, in der Hoffnung, in einem anderen Land bessere Lebensbedingungen vorzufinden.

Deutschland hingegen braucht, wie schon in den sechziger Jahren, Zuwanderung. Menschen, die die Gesellschaft verjüngen und bereichern, den Facharbeitermangel ausgleichen, die bereit sind sich zu integrieren. Wir sind auf Einwanderung angewiesen – viele Bürger wünschen jedoch nicht, dass „Fremde“ ins Land kommen. Konflikte sind damals wie heute vorprogrammiert.

Vergangenheit trifft auf Zukunft

Wie es aussieht, stehen uns Jahre bevor, in denen Wandel und Krise Normalität sein werden, und zwar weltweit. Wie schon nach dem Zweiten Weltkrieg, ist jetzt der Zeitpunkt, an dem Nationen gemeinsame Wege und Lösungen finden müssen. Nur heißen die Probleme heute: Klima, Gesundheit, Lebensbedingungen in der Zukunft, Gesellschaftsformen und Digitalisierung. Sie beziehen sich nicht nur auf die Menschheit, sondern auch auf die Natur und Welt im allgemeinen. 

Wer jetzt geboren ist, wird, anstatt Wissen anzuhäufen, Strategien entwickeln müssen, mit Wandel und Krise umzugehen. Die eigene Resilienz gilt es zu stärken sowie einen Weg mit der fortschreitenden Digitalisierung zu finden…

Letztlich kommt mir der Gedanke, dass es Anforderungen an Menschen gibt, die bei allem Wandel konstant bleiben und Lius von dem Verstorbenen so einiges hätte lernen können.

Zwei an einem Ort – zu verschiedenen Zeiten: Schade, dass die beiden sich nie begegnen werden!

Den Hoorn, 31.10.2021

 

Wir freuen uns auf den Austausch mit dir...

Dieser Beitrag hat 3 Kommentare

  1. Ilona Haupt-Roloff

    Meine Schwiegermutter ist 98 und nimmt auch heute noch rege am Leben teil. Sie ärgert sich über die Politiker, fiebert mit den Tennisspielern bei Grand Slam Turnieren und guckt Fußball, liest englische Bücher ( Lucinda Riley „ The seven sisters“ – das war die letzte Serie) und hat nie Langeweile,
    Natürlich hat sie auch schlechte Tage, wo sie am liebsten sterben möchte, Aber sie setzt sich immer Ziele, was sie noch erleben möchte.

  2. Ilona Haupt-Roloff

    Wir kommen Montag nach Texel. Wie wär es mit einem DoKo Treffen?

  3. manfred

    Hallo Ilona,
    Danke für deinen Kommentar und das Teilen.
    Ich vermute, mit “Montag” ist der 8.11. gemeint. Wegen einiger Termine werden wir am Sonntagmorgen (7.11.) für ca. 2 Wochen zurück ins Ruhrgebiet fahren müssen.
    Aber vielleicht liege ich auch falsch und ihr seid schon auf Texel – dann sollten wir uns unbedingt treffen.
    Wie lange werdet ihr hier Urlaub machen?
    glg manfred