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Mit sowjetischer Infrastruktur in die Moderne

Wir passieren die Grenze bei Batumi. Es sind wie immer zwei Grenzstationen. Bereits an der ersten werde ich aus dem Auto gebeten. Nur der Fahrer soll im Auto bleiben. Schnell teilen wir die Papiere auf und ich muss als Fußgängerin den Weg durch ein langes, flughafenartiges Gebäude laufen. Die Ausreise aus der Türkei mit dem Personalausweis verläuft unproblematisch. Bei der Einreise nach Georgien wartet ein längeres Gespräch auf mich. Wo mein Stempel im Pass sei, werde ich gefragt, wo ich hinwolle und in welches Land ich als nächstes reise? Na, das sind Fragen. Meine Antworten verwirren die Mitarbeiterin, aber schließlich darf ich doch einreisen.

Land im Umbruch

Auf der anderen Seite der Grenze herrscht munteres Treiben. Nun bin ich in Georgien, einem kleinen Land mit gerade einmal 3,7 Millionen Einwohnern auf 57.215 Quadratkilometern.

In Batumi herrscht suptropisches Klima, bereits an der Grenze ist es drückend heiß und ich bin ein weiteres Mal durchgeschwitzt, während ich auf Manfred warte, der noch in einer langen Autoschlange steht. Zviad, unser Länderguide, und Su, eine unserer Tourleitungen, heißen uns bereits an der Grenze Willkommen, überreichen uns die Simkarten und weitere Infos. Auch eine Haftpflichtversicherung für den Amigo schließen wir noch an der Grenze ab. 

Crashkurs – Autofahren für Fortgeschrittene

Von hier gehts weiter zum ersten Stellplatz. Ziel ist der botanische Garten am anderen Ende der Stadt – dort stehen wir für zwei Nächte innerhalb des botanischen Gartens. 

Für die eigentlich kurze Strecke benötigen wir statt der halben Stunde fast zwei. Dafür bekommt Manfred einen Crashkurs in georgisch – was das Autofahren anbelangt. 

Umgeben von Fahrzeugen aller Art, bewegen wir uns auf schlechten Straßen irgendwie durch die Stadt. Lediglich die Richtung, die die Verkehrsteilnehmer eingeschlagen haben, ist klar. Markierungen gibt es an vielen Stellen nicht und es ist meist unverständlich, warum aus vermeintlichen drei Spuren zwei werden und wie die Regelung im Kreisverkehr ist. Zudem haben die Georgier die Tendenz überall zu überholen, auch wenn sie nicht sehen können, ob in der Rechtskurve ein Fahrzeug entgegenkommt. Aber irgendwie ergibt sich alles wie von selbst und der Fahrstil an sich ist nicht aggressiv.

Als wenn das noch nicht genug Herausforderung wäre, sind jede Menge Tiere mit auf der Fahrbahn. Bereits auf dem kurzen Stück durch die Stadt begegnen uns Hunde und Katzen, die alleine unterwegs sind, Gänse, Schweine und Kühe, und die nicht nur am Straßenrand.
Auf unserem Weg durchs dünn besiedelte Land sind an einem Nachmittag mehr Rinder als Autos auf der Straße. Rinder sind sehr geduldige Tiere. Ich amüsiere mich noch jetzt über die Situation, als wir nach einer Kurve unvermittelt in acht Rinderaugen schauen. Die vier Rinder stehen völlig tiefenentspannt auf unserer Fahrbahn und beäugen uns neugierig. Nichts passiert. Da ein anderes Fahrzeug es drei Straßen vorher mit Hupen geschafft hat, dem Rind Beine zu machen, führt Manfred stolz unsre extra für die Tour eingebaute lautere Hupe vor. Nichts passiert. Schließlich setzt Manfred ein Stück zurück und passiert die „Kings of the road“ auf der Gegenfahrbahn.

So bewegen wir uns insgesamt also langsam durchs Land. Manfreds ganze Konzentration ist gefordert. Es ist immer und überall unvermittelt mit Schlaglöchern, Drempeln, schlechten Straßenverhältnissen, Rinder- bzw. Kuhausflüglern, Schweinen, Eseln, Hunden und überholenden Fahrzeugen zu rechnen.
Aber auch für mich als Beifahrerin ist die Fahrt nicht relaxt. Es ist nicht daran zu denken, mal eben etwas zu tippen oder gar einen Beitrag zu schreiben. Laut Aussage eines unserer Guids, sind 30% der Straßen nicht oder nur schlecht befahrbar, viele sind im Bau.
Uns dämmert, das wir wohl Stück für Stück auf Indien vorbereitet werden und dies die neue Normalität für etliche Monate sein wird.

Land im Umbruch

Seit dem Zerfall der Sowjetunion und der Unabhängigkeitserklärung Georgiens sind gut dreißig Jahre vergangen. Damals blieb ein marodes Land mit mehr als 80 % Arbeitslosen zurück. Aktuell sind es immer noch 35 % oder mehr – eine soziale Absicherung gibt es nicht. Die Rentenzahlungen betragen nur einen kleinen Anteil des durchschnittlichen Verdienstes. Viele Familien leben deshalb mit mehreren Generationen zusammen. 

Viele kluge Köpfe suchten sich deshalb bessere und gut bezahlte Jobs im Ausland und wanderten schließlich aus – ca. 2 Millionen sind es bislang, ein beträchtlicher Teil der Gesamtbevölkerung.

Die kriegerischen Auseinandersetzungen, sowie die starke Militärpräsenz Russlands, tragen dazu bei, dass sich die Situation noch verschärft. Es herrscht Angst vor einem erneuten Krieg und der Wunsch in die europäische Union aufgenommen zu werden, ist zwischenzeitlich groß.

Aktuell sind die Weinproduktion und der Tourismus neben dem Business bei großen ausländischen Firmen, die größten Wirtschaftszweige. Die Tourismusbranche wuchs zuletzt um 20%.

Georgischer Wein

Georgien ist bekannt für seinen Wein, der in verschiedenen Regionen des Landes wohl schon seit 8000 Jahren angebaut und in kleinen Kellereien bis heute noch traditionell hergestellt wird. Anders als bei uns, werden die Trauben hier noch in Bottichen mit den Füßen zertreten. Der Saft wird einige Tage stehen gelassen. Mit Einsetzen der Gärung wird er in gläserne oder porzellane Gefässe gegeben bis die Gärung abgeschlossen ist. Danach wird der Jungwein in Tongefäßen in der Erde eingelassen, deren Hals etwas aus dem Boden ragt. Gegen Schimmelbildung wird die Öffnung mit Ton, Glasplatte und Holzasche abgedichtet.

Dieses Verfahren gehört zum immateriellen Weltkulturerbe.

Wir durften uns das eine oder andere Mal von dem Ergebnis  der Winzerkunst überzeugen. Der Weißwein ist leicht gelblich. Das habe ich so vorher noch nirgends gesehen.

Stadt, Land, Fluss

Von Batumi aus gehts für uns weiter in nordöstlicher Richtung in eines der Weingebiete. Bei Gakhomela baden wir in heißen Schwefelquellen, bevor wir durch den Martvili Canyon paddeln. Nach einer Nacht am Fluß führt uns der Weg nach Kutaisi. Neben einer Stadterkundung besuchen wir von hier aus die Klöster Gelati und Motsameta sowie die Prometheus Höhle.

Für eine Nacht fahren wir Richtung Süden, schauen uns die Burganlage von Akhaltsikhe an und übernachten auf dem Gelände des Observatoriums von Abastumani.

Im Anschluss queren wir Georgien Richtung russischer Grenze, erkunden das Städtchen Telavi und lassen uns in die Künste des georgischen Weinanbaus einführen, bevor wir unsere Reise durch Georgien in Tiflis abschließen.

Die Route, das Logbuch und viele Fotos von all diesen Stationen sind auf der Übersichtsseite Georgien hier zu finden.

Georgien ist ein schönes, weites Land, mit vielen Gebirgszügen und durchzogen von Flüssen. Auf unserem Weg durchfahren wir unzählige kleinere Ortschaften, etlichen Städte und besuchen viele kulturelle Stätten.

Gegensätze ziehen sich an

Wie schon auf Kuba in 2019/2020 empfinde ich auch Georgien als Land der Gegensätze. Ich bin überzeugt, dass diese Gegensätze ihren Ursprung in den sich wandelnden Systemen haben. Der Kommunismus/Sozialismus hat sich überlebt, ein neues System / ein neues Regime steht vor den Herausforderungen, mit wenig Mitteln etwas Neues zu schaffen. Ich weiß schon, dass Kuba und Georgien nicht miteinander zu vergleichen sind, und doch sehe ich da Parallelen.

Das Leben in der Stadt und auf dem Land unterscheidet sich hier sehr. In Tiflis habe ich letztlich den Eindruck, in einem weiteren, eigenen Land zu sein. Die Unterschiede könnten nicht größer sein. Während überall im Land viele alte Fabrikruinen stehen, alte Produktionsstätten seit dreißig Jahren am Straßenrand verrotten, pulsiert in Tiflis das Leben.

Im ländlichen Bereich haben viele Menschen kleine Eigenheime und bauen für den Eigenbedarf an bzw. verkaufen hiervon an Straßenständen. Die Häuser sind oftmals in einem schlechten Zustand. Offensichtlich fehlt es an Geld und Mitteln. In den Städten gibt es neben neuen Häusern auch etliche alte Plattenbausiedlungen, die sehr in die Jahre gekommen sind.
Die Fotos sprechen eine eigene Sprache. 

Ein soziales Netz wie bei uns gibt es nicht. Wer keine guten Job bekommt, ist auf Hilfe anderer angewiesen, lebt in Großfamilien oder verlässt das Land.

Auf dem Land haben wir für sehr wenig Geld die wenigen Lebensmittel, die wir benötigten, eingekauft. In Kutaisi war ich in einem großen Supermarkt überrascht über die große Auswahl an Lebensmitteln, aber auch über die Preise. Diese dürften ein Großteil der Bevölkerung nicht bezahlen können.

Abenteurer richten sich ein

Zwischenzeitlich haben wir uns wieder gut in den Amigo eingelebt und das Leben in unserem Wanderdorf ist Alltag geworden. 

Überrascht bin ich, dass die Tage von morgens bis abends gefüllt sind. Viele Besichtigung machen wir gemeinsam mit der Gruppe. Es vergeht kein Tag, wo nicht ein Bus für uns bereit steht, eine Besichtigung auf uns wartet oder wir gemeinsam etwas Essen oder auch Geburtstag feiern.

Einige wenige Programmpunkte haben wir bislang ausgelassen. Es ist auch mal schön, ein paar wenige Stunden einfach nur für sich zu haben.

Ansonsten bewältigen wir den Alltag von Langzeitreisenden. Es sind Einkäufe zu erledigen, Stellen für die Entsorgung müssen gefunden werden. Wir weichen die Wäsche ein, die dann während der Fahrt durchgerüttelt wird, spannen Wäscheleinen, holen täglich Tisch und Stühle raus, richten den Amigo zum Verweilen ein und packen schließlich am Morgen alles wieder für die Weiterfahrt zusammen.
Unsere Lebensmittel kaufen wir überwiegend bei kleinen Straßenhändlern. Hier ist das Obst und Gemüse frisch und schmeckt hervorragend, auch wenn die Auswahl sehr eingeschränkt ist. Da die Sachen sich aufgrund der weiterhin hohen Temperaturen nicht sehr lange halten, kaufen wir fast täglich irgendetwas ein.

Manfred und ich essen weiterhin viel Salat. Bei der Wärme zu kochen, macht wirklich keinen Spaß.

Nach wie vor lacht täglich die Sonne vom Himmel bei Temperaturen über 30 Grad. Das schlaucht mich mehr, als ich gedacht hätte, weil wir uns der Hitze nicht wirklich entziehen können. Zwischenzeitlich friere ich bei 24 Grad und freue mich auch schon mal über ein kaltes Körperteil – wer hätte das gedacht.

Georgien im Rückspiegel

Insgesamt hat mir Georgien als Land gut gefallen. Ich hatte es vorher nicht als Urlaubsland auf dem Plan. Aufgrund seiner Lage ist es sehr vielfältig.
Auffällig fand ich, dass die Menschen, anders als zuvor in der Türkei, eher zurückhaltend und vorsichtig im Kontakt sind.
Die Gastfreundschaft jedoch ist sehr groß. Wir sind einige Mal zu einem Wein oder ChaCha (Grappa-ähnlicher Schnaps) eingeladen worden. Die Menschen freuen sich über Gäste aus dem Ausland.

Ich wünsche den Georgiern von Herzen, dass sie ihrem Weg treu bleiben und sich zu einer modernen Demokratie entwickeln.  Die Sehnsucht, zu Europa zu gehören, war überall gegenwärtig. Eine Perspektive im eigenen Land zu haben, würde die Abwanderung sicher vermindern.

Vor allem aber wünsche ich ihnen, dass sie in keinen weiteren Krieg verwickelt werden, der sie in ihrer Entwicklung erneut zurückwerfen würde. 

Saradevi

Haghpat, 22.08.2022

Hauswand in Kutaisi

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